Taktikaufbauseminar I für Reservisten: Rückkehr in das Haus der Taktik

Seminarteilnehmer und Taktiklehrer

“[Die] Taktik [ist] die Lehre vom Gebrauch der Streitkräfte im Gefecht, die Strategie die Lehre vom Gebrauch der Gefechte zum Zweck des Krieges.” Carl von Clausewitz (1780 – 1831)

Der Arbeitskreis Taktik- und Logistiklehrer im Reservistenverband lud erneut zu einem Taktikseminar vom 29. bis 31. August 2025 an die Sanitätsakademie in München ein – und 25 Teilnehmende aus dem gesamten Bundesgebiet folgten motiviert dieser Einladung. Direkt nach der Ankunft am Haus der Taktik wurden alle Reservisten unterschiedlichster Dienstgrade aus diversen Truppengattungen, die im zivilen Berufsleben u. a. Studierende, Unternehmer, Angestellte, Beamte, Naturwissenschaftler, Ärzte und Professoren aktiv, von den Hausherren und Taktiklehrern Oberstleutnant a.D. Jürgen Baumer und Oberstleutnant a.D. Manfred Bettendorf im Eingangsbereich begrüßt und hereingeführt. Gemein bei allen Hausgästen war die ausgeprägte Bereitschaft, das mitgebrachte Grundlagenwissen über die Taktik individuell zu prüfen, zu erweitern und zu vertiefen. Dazu wurden alle Teilnehmende anhand der Systematik im „Haus der Taktik“ vom Erdgeschoss in die erste Etage, auch als “Belle étage” bezeichnet, geführt, damit die unterschiedlichen Kenntnisse didaktisch gezielt zu einem homogenen Wissenstand geführt werden konnten. Bevor die militärischen Inhalte der Taktik in den Fokus der Lernvermittlung rückten, soll folgende – sich möglicherweise aufgedrängte – Frage beanwortet werden: Was ist das Haus der Taktik?

Der Arbeitskreis Taktiklehrer im Reservistenverband hat sich das hehre Ziel gesetzt, die auf den ersten Blick komplexe Thematik der Taktik in didaktisch sinnvoll aufeinander aufbauenden Modulen zu vermitteln. Um diese modular strukturierte Gesamtaufbildung plastisch darzustellen, wurde das Haus der Taktik konzipiert. Das Erdgeschoss, in der Systematik „Haus der Taktik“ bildet das Grundlagenseminar, es steht für die Grundlagenmodule, die in die Thematik einführen und das theoretische Fundament schaffen sollen. Schwerpunkte dieser Module sind allgemeine formale Fragestellungen, taktische Symbole sowie das Lesen und Führen von Lagekarten. Im Zentrum dieser Ausbildungseinheit stehen der Führungsprozess der Landsteitkräfte mit den Prozessabschnitten Lagefeststellung, Entscheidungsfindung, Planung und Befehlsgebung, die Grundsätze des Führungsverhaltens, die Auftragstaktik, das Führen von Kräften in Landoperationen nach dem Prinzip der Operation verbundener Kräfte und das Rollenverständnis des militärischen Führers.

In der bereits genannten über dem Erdgeschoss gelegenen „Belle étage“ befinden sich dann die Aufbauseminare I bis III, in denen die erworbenen theoretischen Grundlagen ausgebaut und verbunden mit praktischen Komponenten weiterentwickelt werden.

Im Aufbauseminar I widmeten sich die beiden langjährigen Taktiklehrer und Seminarleiter, Oberstleutnant a.D. Jürgen Baumer und Oberstleutnant a.D. Manfred Bettendorf, der Aufgabe der Wissensvermittlung, die mit ihrer umfassenden Erfahrung aus der früheren dienstlichen Verwendung u. a. in internationalen Stäben und Auslandseinsätzen unschätzbare Expertise mitbrachten.

Zu Beginn wurde das Marschziel im weitläufigen Obergeschoss klar formuliert: Auf Grundlage des Führungsprozesses der Landstreitkräfte soll die Absicht der übergeordneten Führung analysiert werden. Mit dem Wissen um die geforderte eigene wesentliche Leistung, die von allen erwartet wurde, brachten die Seminarleiter alle auf einen einheitlichen Wissensstand, gaben die Lagekarte des Führungsprozesses mit und setzten anschließend die Kameraden geistig in Marsch. Es wurde von Beginn an sehr deutlich, dass eine wirksame und erfolgreiche Truppenführung zwar als ein kreativer, schöpferischer Prozess verstanden werden kann und sich daraus eine Vielzahl von Freiräumen ergeben, diese aber für eine Zielerreichung nicht ausreichend sind. Für einen nachhaltigen Erfolg bedarf es klar definierte fixe Prinzipien, die eine strukturierte Vorgehensweise nach dem deutschen „Führungsprozess der Landstreitkräfte” sicherstellen.

Die Systematik des Führungsprozesses mit seinen wiederkehrenden Phasen der Lagefeststellung, der Entscheidungsfindung, der Planung und der Befehlsgebung waren die Zwischenziele des geistigen Marsches. Der Führungsprozess setzte am Ausgangsszenario an, eine Verteidigung gegen feindliche Kräfte in Divisionsstärke zu prüfen, zu bewerten und daraus sachlogische Entscheidungen abzuleiten. Das gesamte Szenario in nuce: Der übergeordnete Brigadestab PzGrenBrig 51 als übergeordnete Führung hat seine Befehle ausgegeben und nun war es an den Teilnehmenden, in der Rolle eines Bataillonsstabes einen detaillierten Operationsplan für das verstärkte PzGrenBtl 514 zu konzipieren. Der Rhythmus des mentalen Marsches sah einen Wechsel zwischen Vortrag der Seminarleiter, Aufgabenpräsentation und -erläuterung und anschließender Gruppenarbeit vor.

Anschließend arbeiteten sich die Gruppen durch die verschiedenen Phasen des Führungsprozesses: die Analyse des Auftrages (Auswertung des Auftrages), die Beurteilung der Einflussfaktoren mit einer ausführlichen Beurteilung des Geländes und die Einschätzung der feindlichen Kräfte. Besonders anspruchsvoll war es, die eigenen Handlungsmöglichkeiten abzuschätzen und die für das Bataillon vorteilhafteste Option zu formulieren. Obwohl die reale Bearbeitungszeit für eine solche Aufgabe sehr kurz ist, konnten die Teilnehmenden in der Simulation die einzelnen Schritte des Prozesses in Ruhe durchgehen und verfeinern.

„Der militärische Führer ohne Reserve wird zum Beobachter großer Ereignisse!“ (GenLt a. D. Wiermann – ehemaliger Director General of the NATO International Military Staff im NATO-Hauptquartier)

Schwerpunkte lagen insbesondere bei der Auswertung des Auftrages gemäß Ziffer 3a des Brigadebefehls, der Geländebeurteilung sowie der elementaren Bedeutung der Reserve. Die Beurteilung der Einflussfaktoren, vor allem des Geländes, der Feindkräfte sowie der eigenen Kräfte folgte stringent dem Prinzip „Ansprechen! Beurteilen! Folgern!“. Diese Methodik ist sehr effektiv, um zeitnah eigene taktische Vorteile, die gleichzeitig Nachteile für den Feind darstellen und umgekehrt zu elaborieren. Auf diese Weise sollten die bestmöglichen Stellungsmöglichkeiten für die eigene Truppe – abstrakt für die gepanzerten Kampftruppen und konkret für das verstärkte PzGrenBtl 514 – abgeleitet werden. En passant eingewoben wurden neben den einzelnen Phasen des Führungsprozesses die Inhalte einer Stabsgliederung und deren Rolle beim LVU, die Einsatzgrundsätze der feindlichen Kräfte und die Ermittlung der Kampfkraft sowie die Absicht der einzelnen Feindkräftegruppierungen.

Hptm Borowski erklärt Angr FdKr

Die beiden Marschführer Oberstleutnant a.D. Jürgen Baumer und Oberstleutnant a.D. Manfred Bettendorf beantworteten eine Vielzahl von Fragen aus dem Plenum und bereicherten das Seminar durch praktische Beispiele. Bei aller Anstrengung kam das leibliche Wohl nicht zu kurz. In vielen Marschpausen wurden neben Süßigkeiten auch Wasser und Kaffee bereitgestellt. Hervorragend geeignet um die Inhalte des Seminars weiter zu diskutieren, gegenseitig Inhalte zu erläutern, Vorgehensweise zu hinterfragen, Sachverhalte zu verstehen und natürlich auch um sich zu vernetzen. Um diese Marschpausen lukullisch über den gesamten Seminarzeitraum zu gestalten, war die omnipräsent kompetente Hausherrin und unverzichtbare Unterstützung der Seminarleiter, Frau Ines Aschbauer, verantwortlich.

Am Sonntag war das Marschziel vor Augen und es folgte auf Grundlage der erarbeiteten Ergebnisse die Möglichkeiten des Handelns zu identifizieren und diese in Entschlussform zu formulieren. Nach einem detaillierten Kampfkraftvergleich und Abwägen von Vor- und Nachteilen der Handlungsmöglichkeiten wurde die vorteilhafteste Handlungsmöglichkeit zum Entschluss und somit zur Ziffer 3a des BtlBefehls.  

Der kurze, aber intensive Marsch mit dem Führungsprozess als Leitprinzip stellte sicherlich eine Herausforderung dar, aber durch die souveräne Führung der Seminarleiter wurde jedem Teilnehmenden ein wesentlicher Lernfortschritt und -erfolg zuteil und alle hatten das Ausbildungsziel erreicht. Horrido – Joho!

Nach der Fortbildung ist vor der Fortbildung und hinter den Bergen sind weitere Berge. Um vom Obergeschoss zur Spitze des Daches zu gelangen, um dann den gesamten Überlick über das weite Feld der Taktik zu erhalten, sollten die inhaltlich anschließenden Aufbauseminare II (Geländeerkundung) und III (Gefechtsstandausbildung) noch auf derselben Etage absoliviert werden. Auf diese Weise schafft der zukünftig voll ausgebildete und versierte Taktiker die Voraussetzung, um an der siebentägigen Simulationsübung im SIRA-System (Simulationssystem für Rahmenübungen) in Hammelburg im Oktober 2026 teilzunehmen. Dort können die Reservistinnen und Reservisten die Phasen des Führungsprozesses in einer computergestützten Gefechtssimulation unter realistischen Bedingungen üben. Ziel ist es, Handlungssicherheit bei Führungsprozessen von Zug- bis auf Bataillonsebene zu erreichen.

Nach einem lehrreichen, unterhaltsamen und von Kameradschaft geprägten Wochenende war dennoch das Bewusstsein vorhanden, dass die Taktik nicht nur eine realitätsferne und abstrakte Gedankenspielerei darstellt. Auf die eindeutigen Luftraumverletzungen in Polen und Rumänien durch russische Drohnen im Zuge von friedensverachtenden Angriffen, folgte das Eindringen von feindlichen Kampfflugzeugen in den estnischen Luftraum. Der jüngste Drohnenvorfall in Dänemark setzt die Reihe russischer Provokationen nur fort. Das Testen von militärischen Möglichkeiten und Grenzen führte zu einer angemessenen und notwendigen Reaktion seitens der NATO: Die NATO verurteilte die im Luftraum ihrer Mitgliedsstaaten stattgefundenen Vorkommnisse, indem das Verteidigungsbündnis seine Entschlossenheit zum Handeln betonte und Russland unter Androhung von Gewalt vor weiteren Luftraumverletzungen warnte. In einer Erklärung aller 32 Bündnisstaaten heißt es:

“Für Russland sollte es keinen Zweifel geben: Die NATO und ihre Verbündeten werden im Einklang mit dem Völkerrecht alle notwendigen militärischen und nichtmilitärischen Mittel einsetzen, um sich zu verteidigen und alle Bedrohungen aus allen Richtungen abzuwehren.”

Diese Erklärung sollte alle Verantwortlichen zu einer Refokussierung auf die am 27. Februar 2022 erklärte Zeitenwende und deren Zielsetzung führen. Deutschland muss unverzüglich verteidigungsbereit werden! Die Zeit der “Friedensdividende” ist entgültig passé. Die akute Bedrohungslage ist real: Spätestens seit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine ist klar, dass militärische Aggression in Europa eine reale Möglichkeit ist. Russland wird von einem Großteil der Bevölkerung als konkrete Bedrohung für Deutschlands Sicherheit wahrgenommen. Die hybride Kriegsführung – von Cyberangriffen auf kritische Infrastrukturen bis hin zu Desinformation und Sabotage – findet bereits täglich statt. Bundeskanzler Merz hat bei einem Festakt zum Jubiläum in Berlin zum NATO-Beitritt der Bundesrepublik vor 70 Jahren den Anspruch Deutschlands auf eine Führungsrolle in der Militärallianz bekräftigt. Deutschland werde, so der Bundeskanzler, in den nächsten Jahren bei dieser Aufgabe vorangehen, den europäischen Pfeiler der NATO zu stärken. Dazu muss die Bundeswehr kriegstüchtig sein – nicht werden. Eine Verschiebung in ein fernes, ungewisses Morgen stellt eine Gefährdung des Friedens dar. Nur eine kriegstüchtige Bundeswehr kann glaubwürdige Abschreckung leisten und damit dem Frieden dienen.

Der Schutz von Demokratie und Werten darf nicht nur verfassungsgemäß für Deutschland oberste Priorität haben. Verteidigungsbereitschaft ist nicht nur militärisch, sondern auch gesamtgesellschaftlich zu verstehen. Sie schützt unsere plurale und offene Gesellschaft, unsere Freiheit und unsere demokratische Lebensweise vor äußeren und hybriden Angriffen. Es gilt die Resilienz zu stärken, um jegliche Intervention und Manipulation mit dem Ziel der Spaltung entgegenzuwirken.

Die proklamierte Zeitenwende war der Beginn einer neuen außen- und sicherheitpolitischen Phase. Jetzt muss der Zeitenwandel umgesetzt werden und die zweite Phase der Verteidigungsära münden – Frieden braucht Stärke! Dies erfordert ein unverzügliches Handeln mit ausreichend finanziellen Mitteln, moderner Ausrüstung, eine klare Strategie verbunden mit einer Meilensteinplanung und die sofortige Reaktiverung der Wehrpflicht.  

Wir Soldatinnen und Soldaten wissen, dass unsere Uniform nicht nur im Frieden glänzt. Unsere Uniform ist ein für jedermann erkennbares Bekenntnis: “Wir. Dienen. Deutschland.” Dies reicht aber nicht aus. Das äußere Bekenntnis muss die Grundlage sein, um zu einer weiterführenden, höheren und klaren inneren Haltung zu gelangen: “Wir. Dienen. Dem. Frieden!” Diese innere Überzeugung muss jederzeit prägend und bei allen Handlungen zur Geltung kommen, damit die jetzt und zukünftig unmissverständlich folgende Botschaft nach außen gesendet wird: “Wir. Sind. Bereit.” denn “Wir. Sind. Die. Bundeswehr!”

Anmelden und mitmachen

Interessenten aus den Dienstgradgruppen der Offiziere und Unteroffiziere mit Portepee in herausgehobener Dienststellung (Kompanie-Ebene, Zugführer, Kompanietruppführer, ab Bataillons-Ebene als S1- bis S6-Feldwebel) finden unter www.taktik-logistiklehrer.de die aktuellen Termine der kommenden Seminare für das Jahr 2025 und 2026. Die Termine für das Ausbildungsjahr 2026 werden vermutlich ab Ende Oktober/Anfang November 2025 auf der Homepage des Arbeitskreises Taktik veröffentlicht.

Hauptmann d. R. Marcel Borowski, M. A. & MPA